2041 - Vision für den Zeitungsmarkt
Etwas mehr Vielfalt wäre schön |
„Der Gang zum Briefkasten fällt mir nicht mehr so leicht, ein Körper spürt fast siebzig Jahre auf dem Buckel. Zum Glück ist der Geist einigermaßen unbeschadet geblieben. Lustig, dass wir damals, in den 10er Jahren dieses Jahrhunderts, wirklich dachten, dass Zeitungen irgendwann durch das Internet ersetzt würden! Dass ausgerechnet das einzige Medium verschwinden wird, an das wir damals alle geglaubt haben, das Fernsehen, damit hatte niemand gerechnet. Aber heute streamen wir Nachrichten, Filme und Musik selbst im Kühlschrank-Display aus dem Netz – wann und was wir wollen. ARD und ZDF mussten vor 10 Jahren ihr gesamtes Geschäftsmodell über den Haufen werfen. Tja, wer hätte gedacht, dass ausgerechnet die gute alte Zeitung überleben würde.“
Mit genau diesen Worten begann ein Text, den ich 2011, also vor 30 Jahren, für den „Weser-Kurier“ geschrieben habe. Damals ging es darum, Bremer Kultur-Visionen für 2041 aufzuschreiben. Den „Weser-Kurier“ gibt es bis heute – jeden Morgen hole ich ihn aus meinem Briefkasten, ebenso wie die „taz“, die „BILD“, die inzwischen ebenfalls zugestellt wird, und: die „Bremer Nachrichten“.
Im Wohnzimmer suche ich nach meiner Lesebrille. Die „Bremer Nachrichten“ erinnern heute in einer Sonderausgabe an ihre bewegte Geschichte. Der Artikel beginnt mit dem Jahr 1871. Vor genau 170 Jahren sind die „Bremer Nachrichten“ nämlich zum ersten Mal täglich erschienen. Sie waren das Aushängeschild einer stolzen Stadt der Hanse und der Händler. Eine der ersten Zeitungen überhaupt!
Wo war noch mal meine Brille? Ah, hier!
Also: „Bremens Aufstieg“, so steht es da, „hatte auch mit seiner Zeitung zu tun. Denn eine Stadt entwickelt sich nicht allein in Wirtschaftszahlen und Straßen, in Architektur und Wahlen. Eine Stadt entwickelt sich aus einem Geist – ein Geist, der zur Debatte gestellt wird, Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr.“
Ich lege die Zeitung zur Seite und krame in meiner Artikelsammlung. Da ist er, der Text, den ich damals geschrieben habe. Auf etwas vergilbtem Papier lese ich weiter: „Mit genau diesen Worten begann ein Text, den ich 2011, also vor 30 Jahren, für den ‚Weser-Kurier’ geschrieben habe.“ Und dann, etwas später, nachdem ich ein wenig (das war damals modern!) mit den Zeiten zwischen 2011 und 2041 gespielt hatte: „Der Grund einer Zeitung besteht - neben ihrer Funktion als Ideenlieferant - auch darin, Diskussionen zu entfachen, die Streitkultur zu kultivieren, eine Stadt und ihre Bürger zum Denken zu zwingen.“ Zugegeben, stilistisch nicht besonders großartig, aber damals ging es uns eben auch um die Sache!
Es ist schön, heute die „Bremer Nachrichten“ aufzuschlagen, und zu sehen, dass sie unseren Kampf nicht vergessen haben. Kein Wunder, denn damals war die Medienlandschaft in Bremen etwas eingeschlafen. Wenn man „www.bremer-nachrichten.de“ in den Computer eingab, wurde man direkt auf die Seite des „Weser Kurier“ umgeleitet. Die moderne Nachkriegsgründung hatte sich durchgesetzt und das Traditionsblatt verdrängt: Der Verkauf der „Bremer Nachrichten“ an den Springerverlag scheiterte 1974, und man hatte sich auf eine bremeninterne Lösung geeinigt: der „Weser Kurier“ versprach den „Bremer Nachrichten“ eine eigenständige Redaktion und keine betriebsbedingten Kündigungen. Aber schon einige Jahre später waren die beiden Zeitungen de facto zu einer verschmolzen – und irgendwann existierten die „Nachrichten“ nur noch als Erinnerung.
Nicht, dass der „Weser Kurier“ damals eine schlechte Zeitung gewesen wäre. Im Gegenteil: man heimste Journalistenpreise ein, versuchte (auch das war damals modern), auf Service zu setzen und machte aus jeder Service-Serie sofort ein Buch, das sich in der Stadt gut verkaufte. Wenn ich mich richtig erinnere, wurde mein Text über die Zukunft der Kultur und die Zeitung ebenfalls in einem solchen Buch verkauft. Außerdem hatte man ja auch keinen Grund, irgendetwas zu verändern: in kaum einer anderen Stadt hatte die Lokalzeitung so viel Auflage und Leser wie der „Weser Kurier“ in Bremen. Man konnte also konkurrenzlos vor sich hintüfteln. Höchstens, wenn ein neues Anzeigenblatt aufkam, reagierte der Monopolist und investierte in ein Konkurrenz-Blatt.
Aber die Bremer Medienlandschaft war müde geworden. Radio Bremen, einst nationales Vorbild für das „etwas andere“ Fernsehen, machte längst ein hochglänzend unkantiges Programm wie RTL, die „taz“, einst mit großem Bremen-Teil auf dem Markt, fand in der Hansestadt nicht einmal mehr 1.000 Abonnenten, und BILD-Bremen schaffte es immer seltener, zu provozieren. Mit anderen Worten: Bremen versank im medialen Dämmerschlaf. Und die Medien-Müdigkeit strahlte auf die Stimmung in der Stadt aus: Das Theater wurde totgespart, ohne dass jemand darüber berichtete. Im Gegenteil: die fünfköpfige Notintendanz verlautbarte noch, dass sie finanziell genügend ausgestattet sei. Die Kunsthalle, die damals umgebaut wurde, galt als unangreifbares Prunkstück, und es kamen keine Fragen auf, warum Mäzene für mehrere Millionen Euro zwei architektonisch belanglose Betonkästen an das altehrwürdige Haus klatschen ließen. Mit dem Stadtteil „Überseestadt“, der gerade in der Gründung begriffen war, wusste niemand so recht etwas anzufangen. Es fragte auch keiner, für wen die Häuser an der Weser eigentlich gebaut werden sollten. Ganz zu schweigen von der Bremer Schulpolitik, die kein Gegenmittel fand, um sich vom letzten PISA-Platz nach vorne zu schieben. Auch das war ein weitgehendes Medien-Tabu.
„Als wir die ‚Bremer Nachrichten’ belebt haben“, stand nun in dem Text, den ich las, „lag eine merkwürdige Lethargie über der Stadt. Ein Mehltau der Gleichgültigkeit. Und wir dachten: das gilt es zu ändern!“
Heute wissen wir, dass eine Zeitung durchaus eine Kulturinstitution sein kann. Ein Medium, das den Diskurs einer Gemeinschaft beflügelt. Ein Medium, das Menschen in Gespräche bringt, so wie ein Theater, eine Kunsthalle oder ein Museum.
Als einige ambitionierte Frauen und Männer die „Bremer Nachrichten“ wiederbelebt haben, erinnerten sie sich an die große Medienvergangenheit Bremens: Sie stellten kritische Fragen. Sie suchten nach dem, was die Hansestadt wirklich ausmacht. Und sie wurden fündig: an den Universitäten, in der Forschung und in der so genannten subkulturellen Szene. Schnell wurde deutlich, dass all das, worauf Bremen zu Recht stolz ist, seine kleinen Denkschmieden, seine Vereine und Sub-Theater, die neue, kreative Ideen verwirklichen, keinen Platz im Diskurs der Zeitung haben. Das meiste, was in Bremen wirklich innovativ war, fand unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Bremen, das war das „Theatro“ statt des „Hartbreak Hotel“, das Theater statt die Schwankhalle, die offizielle Verlautbarungs-Politik statt kluger Bürgerbewegungen. Und so wäre es wohl auch weitergegangen: Die großen kulturellen Dampfer der Stadt wären totgespart worden und die kleinen hätten kein Gehör bekommen, wenn, ja, wenn nicht ein einschneidender Wandel in der Bremer Medienlandschaft stattgefunden hätte.
Ich rückte meine Lesebrille zurecht.
„Schon nach den ersten Wochen der neuen ‚Bremer Nachrichten’“, so war es nun in der Zeitung zu lesen, „fand etwas Großes statt: Nachdem wir auf langen Strecken Politiker zur Rede gestellt und ins Verhör genommen, Platz für Visionen wirklicher Experten freigeräumt und alles und jedes in Bremen auf den Prüfstand gestellt hatten, begann auch der ‚Weser Kurier’, die Debatte neu zu beleben. Aus der guten Zeitung wurde eine noch bessere Zeitung. Und plötzlich standen sich mehrere Meinungen innerhalb der Stadt gegenüber. Nach einigen Monaten wachte auch Radio Bremen auf. Der Sender befragte seine alten, oft frustrierten Mitarbeiter, wie es damals war, als noch nicht die Synergie der Programme im Vordergrund stand, sondern die Kreativität der Redaktionen. Und plötzlich liefen Konzepte des Senders auch wieder überregional in der ARD. Selbst „taz“ und „Bild“ profitierten von der neuen Lust an der Debatte und steigerten ihre Auflage.“
Die Zeitung hat in ihrem Rückblick nicht übertrieben. Ich erinnere mich, dass 2011 in Bremen plötzlich wieder gestritten wurde. Wohlgemerkt: nicht gezankt! Und eine ganze Stadt begann zu diskutieren. Wie wichtig ist uns das Theater? Wie wichtig unsere „Szene“? Welches Potenzial hat die Kunsthalle wirklich? Und was, verdammt, soll eigentlich mit der Überseestadt passieren? Welchen Politikern trauen wir, wer entwickelt phantasievolle Konzepte jenseits des Mainstreams – wohin wollen wir eigentlich? Wie wird Bremen entschuldet? Welche Rolle spielt die Kultur dabei? Und welche Vision könnte den Strukturwandel beflügeln?
Ich lege meine Lesebrille zur Seite. Es ist schon erstaunlich, wie wenig und wie viel sich in 30 Jahren in einer Stadt verändern kann. Ich habe das uralte Bremen kennengelernt, das Bremen von Intendant Hübner, das Bremen des Drogen-Viertels. Ich habe das lethargische Bremen kennen gelernt. Und, seit 30 Jahren, das Neue Bremen. Das Bremen, das sich nach langen Debatten entschlossen hat, in Bildung und Kultur zu investieren. Das begriffen hat: Nur ein gutes, großes, kritisches Theater verdient Subventionen, und nur seinem Schatten bekommt auch die Off-Kultur ihre Bedeutung. Eine Stadt, die verstanden hat, dass Investoren, Firmen und Facharbeiter nur kommen, wenn das kulturelle Klima stimmt. Heute ist selbst die Überseestadt, kein Geisterdorf mehr, sondern ein Stadtteil mit Geist: Handwerk, Medien und Restaurants haben sich hier niedergelassen.
Ich schlage die Zeitung zu. Damals, 2011, habe ich meinen Artikel mit den Worten beendet: „Es wird anstrengend werden, bis wir es uns wieder gemütlich machen können.“ Heute weiß ich: die Anstrengung ist ein viel befriedigenderes Gut als jede Gemütlichkeit.
Axel Brüggemann
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