Bildung ist immer ein Thema. Manchmal sind es auch zwei Themen. Und meistens bleiben am Ende nichts als Worte. Nachdem der Weser-Kurier sich in den letzten Jahren weitgehend aus der Bildungs-Debatte verabschiedet hat, entdeckt er dieses Thema nun als Dauerbrenner. Klar: Man muss ja nur aus den Redaktionsräumen schauen, um zu sehen, was die Bremer Schüler derzeit zu Protesten bewegt. Und nach einer alten journalistischen Regel gehört ins Blatt, was die Menschen auf die Straße treibt!
Es ist die Aufgabe einer Zeitung, die Wogen zu glätten oder sich zu positionieren, genau hinzuschauen und einzuordnen. Das versucht Chefredakteurin Silke Hellwig heute höchstpersönlich. Ihr Kommentar unter dem Titel „Spirale der Benachteiligung“ lässt sich in zwei Sätzen zusammenfassen: Es ist legitim, dass die Bremer Schüler protestieren, aber in der Regel handelt es sich um Kinder mit großem Bildungshintergrund, die derzeit für ihre Rechte streiten. Hinter ihren Protesten droht die grundlegende Benachteiligung von Schülern mit Migrationshintergrund und von Schülern aus bildungsarmen Familien verloren zu gehen. Die Argumentation ist politisch korrekt und so oder ähnlich seit Jahren in fast jedem Kommentar zur Bildungsmisere nachzulesen.
Hellwig bemängelt zu Recht dass die Bildungs-Benachteiligung zum Kreislauf wird, der durch die aktuelle Bremer Schulpolitik nicht gebrochen werden kann: Die Klugen werden klüger, die Dummen werden dümmer. Zwischen ihren Zeilen klagt sie die Protestierenden an, nur für ihre eigenen Interessen auf die Straße zu gehen, für Philosophie- und Spanisch-Leistungskurse statt für "Deutsch für Türken". Man könnte auch sagen: Derzeit kämpft Schwachhausen nicht genug für Kattenturm!
Derartige Sätze, die einen Kommentar auf den Punkt bringen würden, verkneift sich Hellwig aber wohlweislich. Stattdessen eiert sie mit vielen Worten um wenige Inhalt herum. Bei ihr ist alles „offenbar“, „zu befürchten“, „teilweise eher“, „naturgemäß“, „bekanntlich“, „nicht von ungefähr“ und „nicht immer aber oft“ – eine Parade der vagen Worte. Hellwig ist eine Meisterin des Vielleichts und des Vielleicht-auch-nicht. Sie bemängelt die Sprachkenntnisse von Schülern mit Migrationshintergrund und macht mit ihrer eignen Sprache vor, dass Deutsch ein Wunderwerk sein kann, eine Sprache, in der man mit möglichst vielen Worten nichts Genaues sagen kann.
Abgesehen von Zeit- und Ausdrucksfehlern hat ihr Text keinen Punkt. Hellwig fragt nicht, ob die Misere in Bremen vielleicht daran liegen könnte, dass Senatorin Jürgens-Pieper ebenfalls nur eine Frau der Worte, der Versprechungen und Ambitionen ist, dass sie – ebenso wie Hellwig – Fairness fordert, Inklusion, Förderung und sozialpädagogische Betreuung, dass sie vorgibt eine Politik der politischen Korrektness zu betreiben, aber nicht in der Lage ist, die Mittel dafür bereit zu stellen. Dass die Senatorin - ebenso wie die Chefredakteurin - schöne Worte macht, mit denen sie die Betroffenen letztlich allein lässt, um ihre Hände in Unschuld zu waschen. Denn zu konkreten Forderungen, zu einer Ordnung der Lage, zu möglichen Mitteln stoßen die beiden Damen nicht vor. Sie fordern, ohne dabei Lösungen zu ermöglichen. Sie lassen ihre Wähler und ihre Leser allein.
Und so hinterlässt Hellwigs Kommentar den schalen Nachgeschmack, dass die protestierenden Schüler nicht nur lernen wie unsere repräsentative Demokratie (für Hellwig schlicht: „Demokratie“) funktioniert, dass gegen den Willen der Eltern Politik gemacht wird, dass die Politik sich kompromisslos zeigt und die Demonstrationen als Selbsterfahrung eingeordnet und beiseite geschoben, ja mehr noch, gegen ein anderes Thema ausgespielt werden (mehr Philosophie-Stunden gegen bessere Integration) sondern auch, dass der Journalismus die Protestierenden verrät. Dass ihren Anliegen nicht mit Recherche begegnet wird, mit der konkreten Problematisierung der angeklagten Probleme, sondern dadurch, dass sie gegen ein anderes Thema vom Tisch gewischt werden.
Kommentare wie diese sind wie die Politik an sich: arrogant. Journalisten, die sich nicht einmal in einem Kommentar positionieren, die Platitüden formulieren, statt Gedanken zu formen, verraten die Aufgabe des Journalismus - und damit ihre Leser. Innerhalb der Redaktion gibt es ausgewiesene Bildungs-Experten, die in der Lage wären, die aktuellen Proteste zu analysieren, Forderungen abzuleiten und die Politik mit der Wut der Bürger zu konfrontieren. Doch stattdessen zieht Hellwig es vor, über den Dingen zu schweben und einen Besinnungsaufsatz zu schreiben.
Die Wahlbeteiligung in Bremen zeigt, dass viele Wähler den Habitus der Politik längst ablehnen – sie gehen einfach nicht mehr zur Wahl. Eine Zeitung sollte das verstehen und anders reagieren. Denn die Nichtwähler sind auch verlorene Abo-Kunden der Zukunft. Warum sollte man eine Zeitung lesen, die ihre eigene Stadt relativiert, die das größte Problem unseres Gemeinwesens, die Bildungspolitik, als „vielleicht, aber vielleicht auch nicht“-Thema behandelt. Die Bildung, Wissen und die Wichtigkeit der Sprache einfordert – und nichts von dem selbst einlöst? Nein, die Bremer Schüler werden nicht gegen den Weser-Kurier demonstrieren. Sie werden ihn einfach nicht mehr lesen. (ab)
Sie werden ihn nicht nicht mehr lesen - sie haben ihn noch nie gelesen. Und sie haben nichts dabei verpasst - es sei denn die Seite Werbung für eine irische Billigklamottenkette im gestrigen Kurier am Sonntag.
AntwortenLöschenSchade nur, dass der Autor kaum auf die Inhalt des Kommentars, sondern eher auf die erkennbare Meinungslosigkeit der Chefredakeurin des Weser Kuriers eingeht. Die subtile Weise, mit der Jürgens-Pieper einerseits Stimmung gegen die Finanzsenatorin macht, andererseits zwar in den Oberstufen kürzt, die eingesparten Mittel aber nicht bei den Schülerinnen und Schülern, sondern bei den zum Zwecke der Abfederung ihrer Bildungsreform geschaffenen ZUP-Leiter und Jahrgangsleiterstellen einsetzt, wird nicht kritisiert. Sollte man aber!